Irmgard - Die Lebensgeschichte eines Bürgelner Mädchens
Irmgard wuchs sehr wohlbehütet auf. Der Umgang in der Familie untereinander war sehr liebevoll.
Irmgard hatte auch einen älteren Bruder namens Erich. Er war 4 Jahre älter als sie. Beide besuchten die Volksschule in Bürgeln.
Die Familie besaß ein paar Morgen Land, hatte zwei Kühe und ein paar Hühner, wie das so auf dem Dorfe damals bei den meisten Leuten üblich war. Am Dorfrand – neben dem heutigen Kindergarten - besaßen sie auch einen Gemüsegarten, der sie mit dem Nötigsten versorgte. Auf ihrer großen Wiese zwischen Bahnhof und Ohm musste Irmgard im Sommer manchmal die Kühe hüten und aufpassen, dass sie nicht in die Ohm gingen.
Direkt neben ihnen wohnten ihre engsten Verwandten. Ihr Onkel Albert Hess war wie ihr Vater Viehhändler und ihre Tante Berta – sie hieß wie ihre Mutter - betrieb einen kleinen Lebensmittelladen. Tante Berta, die Cousine ihres Vaters, wog großzügig ab und ließ auch im Winter anschreiben, wenn viele Familien, deren Ernährer auf dem Bau arbeiteten, nur ein sehr geringes Einkommen besaßen. Albert Heß stammte aus Oberasphe. Seine drei ältesten Kinder wurden dort auch geboren. Da er wegen seiner Beinprothese – er hatte im 1. Weltkrieg sein rechtes Bein verloren – stark gehbehindert war, konnte er seinen Beruf als Viehhändler kaum ausüben. Deshalb überschrieb Nanny Wertheim ihr Geschäft auf Albert Heß, damit seine Familie ein gesichertes Einkommen erreichen konnte.
Isidor leistete seinen Wehrdienst bei der 3. Eskadron des Dragoner-Regiments von Manteuffel Nr.5 in Hofgeismar ab. 1911 wurde er Reservist. Irma besitzt heute noch seinen Reservistenkrug.
Beide Familien waren im Dorf sehr beliebt und geschätzt. „Das waren prima Leute. Sie waren genau so arme Leute wie wir!“, sagte mir einmal Seibert Kuhn, der alte Schuhmachermeister aus dem Dorf und Nachbar von Wertheims und Hessens.
Irmgards Urgroßvater Isaak Wertheim war ein erfolgreicher Geschäftsmann in Bürgeln gewesen, der neben dem Viehhandel auch im Immobiliengeschäft tätig war. Von den Erlösen seiner Geschäftstätigkeit erwarb er das Haus Nr. 36 mit Scheune und Stallungen, heute Ohmtalstraße 7. Er war auch Mitbegründer des 1889 gegründeten „Bürgeln-Betziesdorfer Dahrlehenskassenvereins“, in dessen Aufsichtsrat er mit Jakob Wertheim, seinem Sohn, gewählt wurde. Dies sprach auch für das Ansehen, das die Wertheims in beiden Gemeinden besaßen.
Irmgards Vater war – wie ihr Onkel Albert – Weltkriegsteilnehmer gewesen. Wegen seiner besonderen Tapferkeit hatte man Isidor Wertheim in Russland das Eiserne Kreuz verliehen. Ein Bruder ihrer Mutter fiel in diesem Krieg für Deutschland.
Ihr Vater Isidor und Onkel Albert waren Mitglieder im Bürgelner Reichskriegerbund Kyffhäuser. Sie fühlten sich als Deutsche. Sie sprachen deutsch, sie dachten, sie sangen und sie träumten deutsch. „Unter den Begriffen „Vaterland“ und „Patriotismus“ konnten sie sich etwas vorstellen“, sagte Heinrich Heimrich in seiner Dorfchronik. Niemand musste sie also belehren, was das sei.
Albert Hess nahm es – im Unterschied zu seiner sehr gläubigen Frau Berta - mit der Einhaltung der jüdischen Speisegebote nicht so genau. Wenn in der Nachbarschaft geschlachtet wurde, ging er heimlich hin und ließ sich das Schlachteessen schmecken. Auch seine Kinder sahen das sehr locker. Auch Irmgard aß manchmal heimlich „nicht koschere“ Sachen bei ihren Freundinnen. „Aber nie Fleisch!“, versicherte sie mir. Ich vermute, dass sie Wurst gegessen hat.
Irmgards Vater Isidor sang sehr gerne. Er hatte eine sehr gute Stimme. Deshalb war er auch Mitglied im örtlichen Männergesangverein. Mit seinen Freunden spielte er auch regelmäßig Skat in der Gastwirtschaft Theis. Und er war meistens guter Laune. Er hatte auch immer einen Witz auf Lager. Sie beschreibt ihn als eine blendende Erscheinung. „Bright and smart!“
Selbstverständlich wurde in Irmgards Familie das Bürgelner Platt gesprochen.
Daneben wurde Irmgard – wie ihr Bruder Erich - von ihrem Vater in Hebräisch unterrichtet. Sie lernte auch das hebräische Alphabet von ihm.
Mit ihren Cousins Julius, Martin und Fritz sowie der Cousine Erna verstand sie sich auch sehr gut. Sie waren aber viel älter als sie. Deshalb verbrachte sie ihre Freizeit auch am liebsten mit ihren beiden besten Freundinnen, die ganz in der Nähe wohnten.
Isidor Wertheim hatte ein Herrenrad. Als Irmgard etwas größer war, lernte sie mit ihm zu fahren. Sie kippte das Rad leicht und fuhr mit dem Gefährt unter der Mittelstange hindurch. Das machte ihr großen Spaß!
Am Samstag, wenn die beiden Familien Sabbat hatten – Schabbes nannte man das damals – wurde nicht gearbeitet. Der Schabbes begann bereits am Freitagabend nach Sonnenuntergang. Während dieser Zeit ruhte die gesamte Arbeit. Es durfte auch nicht gekocht werden. Man machte das vorbereitete Essen dann am Samstag warm. Feuer anmachen durfte man auch nicht. Dazu nahmen Wertheims die Hilfe der christlichen Nachbarn in Anspruch. Das waren ihr Nachbar Balthasar Kornemann und zwei unverheiratete Nachbarsfrauen. Sie machten dann frühmorgens Feuer im Küchenherd an und entzündeten das Licht im Haus.
Am Freitagabend wurde der Schabbes mit einem kurzen Gottesdienst im Haus begonnen, dem sich das Abendessen anschloss. Man begrüßte die „Königin Sabbat“ mit Wein und zwei „Berches“ – geflochtenen und mit Mohn bestreuten Weißbroten. Im Schein von zwei Kerzen betete der Hausherr, gab Wein und mit Salz bestreutes Brot an alle Teilnehmer und sprach den Segen, den „Kiddusch“ zu Sabbatbeginn. Am Vormittag des nächsten Morgens – dem Sabbat - wurde zu Hause wieder ein Gottesdienst abgehalten. Nur bei besonderen Festtagen besuchte die Familie die Synagoge in Kirchhain.
Irmgard brauchte an diesem Tag auch nicht in die Schule gehen. Bei schönem Wetter machte man dann Spaziergänge zu den befreundeten jüdischen Familien in Betziesdorf – hier wohnte die Familie Stern – oder zu Buchheims in Cölbe.
Eine letzte gemeinsame Mahlzeit mit Wein und Berches beendete dann am Abend in Bürgeln mit dem Lobgebet den Sabbat. Zusätzlich kam dann noch eine Büchse mit wohlriechenden Gewürzkräutern – die Besominbüchse - auf den Tisch. Die Kerzen wurden zum Abschluss mit Wein gelöscht.
Sterns besaßen einen Lebensmittelladen. Hinter dem Haus gab es einen wunderschönen Garten, in dem man im Sommer oft Kaffee trank. Daniel Stern, der Bruder von Julius, war im 1. Weltkrieg gefallen. Sein Name war auf dem Ehrenmal an der Kirche von Betziesdorf neben denen von fünf anderen Betziesdorfern zu lesen.
Buchheims hatten in Cölbe eine Metzgerei. David Buchheim schlachtete nicht nur Rinder und Kälber sondern auch Schweine. Die Cölber kauften dort sehr gerne ein, denn David Buchheim machte eine sehr gute Wurst. Politisch engagierte er sich bim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das sich für den Erhalt der Demokratie von Weimar einsetzte.
Manchmal besuchte man auch die Familie von Adolf Wertheim in Kirchhain, einem Verwandten, der wie Irmgards Vater auch vom Viehhandel lebte.
Leider war samstags immer Chorprobe im Gasthof Theis. Da man im Hause weertheim auf die Einhaltung des Sabbatgebotes achtete, konnte Isidor in der sommerlichen Jahreszeit, wenn die Chorprobe ium 8 Uhr begann, nicht zum Singen gehen. Das ging ja erst nach Sonnenuntergang!
Mit ihren Nachbarn verstanden sich die Familien Wertheim und Hess sehr gut. Besonders eng war die Verbindung zu der Familie Trier. Ihre Tochter Katharina – Trinchen genannt – war Irmgards beste Freundin. Aber auch mit Appels, die das große Rittergut in Bürgeln besaßen, verstanden sich Wertheims sehr gut. „Wir waren mit Appels und mit dem Schweizer, der dort im Torhaus mit seiner Familie wohnte, befreundet“, erinnert sich Irmgard mehr als 80 Jahre später. Sehr gut verstanden sich Wertheims auch mit der Familie des Dorflehrers Hesse. Dessen Tochter Anneliese war so alt wie Irmgards Bruder Erich. Anneliese wanderte 1950 mit ihrem Mann Reimschüssel in die USA aus. Nach ihrem Tod 2013 hat sie 10 000 € für die Renovierung der Alten Kirche in Bürgeln gespendet.
Als am 8.6.1921 Betty Wertheim, Irmgards Tante, Max Katz aus Watzenborn heiratete, war neben ihrem Bruder Isidor der 55jährige Betziesdorfer Schneider Johannes Hamel Trauzeuge.
Irmgards Cousin Martin war mit ihrem Klassenkameraden Heinrich Heimrich befreundet, der 3 Jahre jünger war als er. Heinrichs Vater hatte seinem Sohn einen kleinen Tretroller gebaut. Martin durfte auch damit fahren. Als Gegenleistung gab es dann ein Bonbon aus dem Kaufmannsladen oder eine kleine Glasmurmel, die es dort auch zu kaufen gab. Heinrich hat diese schöne Glaskugel, mit der sie spielten, bis heute (2016) in Ehren gehalten.
Albert Heß schlachtete für die Bürgelner Ziegen. Als Lohn für diese Arbeit bekam er das Fell. Das spannte er auf, um es, wenn es getrocknet war, an Fellhändler zu verkaufen.
Heinrich kann sich auch noch sehr gut daran erinnern, dass er ab und zu Matze essen durfte, das ungesäuerte Brot, das ein Matzenbäcker in Josbach herstellte.
Die Kinder im Dorf nannten Irmgard „Jerres Irmgard“. Mit Jerre bezeichnete man im Dialekt einen Juden. Irmgard fand diese Bezeichnung aber nicht anstößig. Es war ihr Dorfname, der für sie etwas ganz normales war.
Bei Kornemanns gab es zum Spielen sogar einen richtigen kleinen Kaufmannsladen. Damit spielte Irmgard besonders gerne.
Die besonders enge Verbindung der Familie Wertheim mit den Bürgelnern verdeutlichen besonders zwei Ereignisse: Als am 9. Mai 1931 Berta Wertheim, die Großmutter von Irmgard starb, wurde der Tod beim zuständigen Standesbeamten Ursprung in Betziesdorf von ihrem Freund Balthasar Kornemann gemeldet.
Als am 12. März 1933 der Großvater von Irmgard, Aron Wertheim, die Augen für immer schloss, war es der Nachbar Ludwig Trier, der das Dahinscheiden dem örtlichen Standesamt meldete.
An einem 24.12. durfte Irmgard einmal zur Familie von Balthasar – Balzer genannt - Kornemann gehen, um sich anzusehen, wie der Heilige Abend dort gefeiert wurde. Balzer hatte sich an diesem Abend als Weihnachtsmann verkleidet. Das hatte Irmgard sofort erkannt. Natürlich gab es auch einen geschmückten Weihnachtsbaum, den es zu Hause bei Wertheims nicht gab. Isidor Wertheim hatte Irmgard den Besuch erlaubt. „Wenn er es verboten hätte, wäre ich natürlich zu Hause geblieben“, sagte sie mir dazu.
Wie das auf dem Dorf so üblich war, mussten die Kinder im Haus und auf dem Feld mitarbeiten. Natürlich auch Irmgard und ihr Bruder Erich. Irmgard kann sich noch sehr gut an das Rüben ernten erinnern. Man zog die Rüben – „Dickwurz“ genannt - heraus und legte sie in Reihen nebeneinander. Der Vater stach dann mit einem Messer die grünen Strunke ab. Bei der Kartoffelernte sortierte man auf dem Feld die Kartoffeln nach ihrer Größe in verschiedene Körbe.
Zu Hause butterte man noch selbst. Mutter Berta stellte aus der Milch auch Quark her, der im Dialekt des Dorfes als „Matte“ bezeichnet wurde. Die dabei entstandene Molke gab man den Nachbarn ab, die damit ihre Schweine fütterten.
Und man verarbeitete zu Hause Gemüse und Früchte aus dem Garten. So wurden Bohnen eingelegt, Sauerkraut gehobelt und in irdenen Töpfen eingestampft, Eier eingelegt. Im großen Kessel fabrizierte ihre Mutter wunderbares Zwetschgenmus, das Irmgard besonders gerne aß. Sie liebte es, im Sommer auf den Lahnbergen Heidelbeeren zu pflücken. Ihre Mutter stellte daraus Heidelbeerkompott her, das sehr gut zu Kartoffelpfannkuchen schmeckte.
Irmgard liebte frischen Zwetschgenkuchen. Am Samstag gab es frisches Brot mit Hühnerfett, Wurst und Tee, der mit einem Tee-Ei aufgebrüht wurde. Das Brot buk man nicht selbst im Dorf. Man holte es bei Bäcker Klee in der Ohmtalstraße. Telefone hatten in Bürgeln nur Herr Theis von der Gastwirtschaft „Mitte“ sowie Appels. Wenn im Dorf ein Kind geboren wurde, hat Irmas Oma eine Kleinigkeit zum Essen vorbeigebracht, um die Familie zu unterstützen.
Irmgard hatte eine sehr glückliche Kindheit in Bürgeln verbracht.
1928 erreichte die NSDAP bei den Reichstagswahlen 2,6% der Stimmen. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise steigerte sie ihre Ergebnisse: 1929 und 1930 kam sie auf über 10%. Am 31. Juli 1932 erreichte sie mit 37,4% ihr bestes Ergebnis. Sie wurde stärkste Partei im Reichstag. Während dieser Zeit wuchs auch die Mitgliederzahl. Bis zum Januar 1933 waren über 850 000 Mitglieder der NSDAP. Auch im Landkreis Marburg, einer Hochburg der Nazis machte sich dies in einem immer aggressiveren Auftreten der SA, der paramilitärischen Kampforganisation der Partei, bemerkbar.
1932 marschierte eine Kolonne SA vom Bahnhof kommen in das Dorf herein. An der Ecke Ohmtalstraße/Marburger Landstraße standen einige Bürgelner und beobachteten die heranmarschierenden Braunhemden. Unter ihnen Albert Heß. Ein besonders fanatischer Bürgelner Nazi marschierte in dem Trupp mit. Laut skandierte er: „Da steht ein Jude!“, woraufhin seine Kameraden den Sprechchor „Juda verrecke, Juda verrecke!“ brüllte. Albert Heß, der sich durch seine Nachbarn wohl beschützt fühlte, rief: „Bevor Du hier so etwas brüllst, solltest Du erst einmal Deine Schulden bei mir bezahlen!“ Die umstehende Bürgelner quittierten diese Äußerung mit Lachen.
Bald sollte ihnen das Lachen vergehen.
Bürgeln unter der Nazi-Diktatur
Mit dem 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Hitler vom greisen Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, änderte sich alles. Da war Irmgard gerade einmal 6 Jahre alt.
Am Tag von Hitlers so genannter Machtergreifung, die eigentlich eine Machtübertragung war, kam die Gemeindeschwester Henni, zu Wertheims und sagte: „Hitler ist Reichskanzler geworden. Der Hindenburg hat ihn selbst ernannt!“ Darüber war Schwester Henni sehr erfreut. Irmgard weiß bis heute nicht, warum sie sich diese Szene gemerkt hat. Schwester Henni assistierte in Bürgeln immer, wenn Dr. Krausmüller aus Cölbe in das Dorf kam.
Am 5. März 1933 wurden die letzten Reichstagswahlen in Deutschland durchgeführt, die bereits schon unter dem Terror der bewaffneten SA, die von der Reichsregierung als „Hilfspolizei“ eingesetzt worden war, stattfanden. Die NSDAP erreichte dabei reichsweit trotzdem nur 43,9 %. Mit den 8% Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei – ihrem Koalitionspartner – kamen die Nazis gerade so über 50%.
Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, dem die bürgerlichen Parteien zustimmten– die SPD stimmte als einzige Partei dagegen – wurde den Nazis die Vollmacht zur endgültigen Errichtung der Diktatur gegeben. Die kommunistischen Abgeordneten – die KPD verfügte über 12 Prozent der Mandate im Reichstag – waren zuvor schon verhaftet und in die Konzentrationslager verbracht worden.
Am 27. März 1933 wurden in Bürgeln der Sozialdemokrat Balthasar Stauzebach und der kommunistische Maurer Josef Losekamm verhaftet und „in Schutzhaft“ genommen. Balthasar Stauzebach war Ortsgruppenvorsitzender des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, in dem sich Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Verteidiger der Weimarer Demokratie organisiert hatten.
An diesem Tag verhaftete man in Deutschland reichsweit Mitglieder der Arbeiterparteien KPD und SPD sowie der Gewerkschaften. Im Landkreis Marburg wurden mindestens 77 Personen in Polizeigewahrsam genommen. Sie kamen in das Marburger Gerichtsgefängnis in der Wilhelmstraße 17. Josef Losekamm wurde am 15.4.1933, Balthasar Stauzebach erst am 10.7.1933 „aus der Schutzhaft“ entlassen. Unter den Verhafteten im Landkreis Marburg befanden sich auch die jüdischen Kaufleute Julius Katten aus Halsdorf sowie Alfred Stern aus Wetter.
Der erste Schlag traf damit die ortsbekanntesten Linken im Ort. Dies geschah in einer Phase, in der die erst kurz an der Macht befindlichen Nationalsozialisten ihre Hasskampagnen gegen die jüdische Bevölkerung noch nicht entfacht hatten. Sie konzentrierten sich zunächst darauf, ihre politischen Gegner auf der Linken auszuschalte, die sie als Teil der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ betrachteten.
Am Abend des 10. Mai 1933 zogen Studenten der Marburger Universität, unterstützt von SA und NSDAP-Prominenz, mit einem Fackelzug von der Afföllerstraße zum „Kämpfrasen“. Dort verbrannte man die Bücher, die den „undeutschen Geist“ verkörpern sollten. Der NSDAP-Vertreter Stoevesandt schwor die Teilnehmer ein. „Wenn später einmal die Geschichte der nationalen Revolution geschrieben wird, dann werden auch diese Kundgebungen verzeichnet sein.“ Die Veranstaltung wurde von der Studentenschaft organisiert, die Studenten sammelten zusammen mit der Hitlerjugend die Bücher in Privathäuern, privaten Leihbibliotheken und öffentlichen Volksbüchereien ein. Unter den verbrannten Büchern befanden sich auch Schriften von Karl Marx, Kurt Tucholsky, Siegmund Freud und Erich Kästner. Heinrich Heine hatte ein Jahrhundert vorher formuliert: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“
Im April 1933 wurde reichsweit zum Boykott jüdischer Läden aufgerufen. Mit ersten Terrormaßnahmen gingen Nazis gegen jüdische Kaufleute und ihre Geschäfte vor.
Der Boykottaufruf gegen jüdische Händler betraf natürlich auch den Kaufmannsladen von Berta Hess in Bürgeln. Anfangs kauften noch viele Bürgelner bei ihr. Als aber der Druck auf die Kundschaft seitens der örtlichen Nationalsozialisten zunahm, kaufte man dann heimlich nach Geschäftsschluss oder im Dunkeln ein. Das ließ sich aber auch nicht lange auf dem Dorfe verheimlichen. Man muss deshalb davon ausgehen, dass ab 1935 Berta Hess ihren Laden schließen musste. Die Bürgelner kauften dann im Laden der Familie Hentrich ein, der nicht weit entfernt von Hessens Haus lag.
Infolge des Abklingens der Weltwirtschaftskrise, der faktischen Aufhebung der Reparationszahlungen im Rahmen des Versailler Vertrages – ein Ergebnis der Politik unter Brüning - und den eingeleiteten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie dem Autobahnbau ging in Bürgeln die Arbeitslosigkeit zurück. Die Nazi-Propaganda ließ alle wissen, wem sie das zu verdanken hatten: Adolf Hitler. Viele Männer aus Bürgeln, auch der Vater von Irmgards Freundin Anna Busch, hatten endlich wieder Arbeit gefunden. Sie waren Hitler deshalb dankbar dafür, auch wenn der eine oder andere erst der NSDAP beitreten musste, um eine Arbeitsstelle zu bekommen.
Am 22.7.1933 gab es eine Mitgliederversammlung des Männergesangvereins Bürgeln. Anwesend waren 36 Mitglieder. Einziger Tagesordnungspunkt: Gleichschaltung des Vereins.
Mit der Politik der Gleichschaltung wollte man das gesamte politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland im Sinne der nationalsozialistischen Führerdiktatur umgestalten. Bezogen auf Vereine wie den Bürgelner Männergesangverein bedeutete dies die Beseitigung demokratischer Strukturen zugunsten des ‚Führerprinzips‘ und den Ausschluss jüdischer Mitglieder.
Im Protokollbuch des Vereins ist zu lesen: „In der heutigen Singstunde fand dann die Gleichschaltung statt. J. M. leitete die Wahl. Vorgeschlagen wurde K. F., welcher dann auch bei der Abstimmung zum Führer bestimmt wurde. F. dankte dem Verein für das ausgesprochene Vertrauen und bestimmte daraufhin seine Mitarbeiter, welche alle wieder im Amte bleiben. Nach Absingen des „Horst-Wessel-Liedes“ fand dann die Gleichschaltung ihr Ende. W., J., 1. Schriftführer.“
Das „Horst-Wessel-Lied“ war die Parteihymne der NSDAP. Sie wurde später nach dem Deutschlandlied – 1. Strophe – als zweite Nationalhymne mitgesungen.
Es ist davon auszugehen, dass mit dieser Versammlung der Bürgelner Sänger Isidor Wertheim aus dem Männergesangverein ausgeschlossen worden ist. Im Protokoll findet sich dazu kein Satz. Wie wird er diesen Rausschmiss aus seinem geliebten Gesangverein aufgenommen haben? Was ging in den Köpfen seiner „Sangesbrüder“ vor?
Am 1.10.1933 schloss der Kyffhäuserbund „Nichtarier“ von der Mitgliedschaft aus.
Was dies für Albert Hess und Isidor Wertheim bedeutete, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Sie, die tapfer für Deutschland gekämpft hatten, ihr Leben riskiert, ihre Gesundheit geopfert und sich ausgezeichnet hatten, gehörten von nun an nicht mehr dazu! Sarkastisch habe Isidor dazu gesagt: “Der Dank des Vaterlands ist Dir gewiss!“
Marburg war eine Hochburg der Nazis gewesen. 1929 hatten nur 480 Marburger die NSDAP gewählt – nur 5,3 %. Aber bereits 1930 – auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise - hatte die NSDAP in Marburg 28,8% der Stimmen auf sich vereinigen können – 10% mehr als im Reichsdurchschnitt. Im Juli 1932 steigerte sie ihren Stimmanteil auf 53,3% (Reich: 37,4%). Es war reichsweit eine Nazi-Hochburg.
Ursachen dafür waren der hohe Anteil völkisch gesinnter, antisemitischer rechtsradikaler und republikfeindlicher Bürger, die geringe Zahl von Arbeitern (SPD und KPD erreichten 1932 gerade einmal zusammen 21,2%) und eine Minderheit katholischer Wähler, die traditionell das katholische Zentrum oder die bürgerlichen Parteien mehr favorisierten.
Der oberhessische Raum war auch zuvor schon ein Zentrum antisemitischer Aktivitäten. 1887 gelang es dem Marburger Bibliotheksangestellten Otto Böckel, als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Marburg-Frankenberg in den Reichstag einzuziehen. Er blieb dort ohne Unterbrechung bis 1903.
Die Deutschen Burschenschaften fassten schon 1920 einen Beschluss, dass Juden nicht Mitglieder in ihren Organisationen sein durften. Sie verlangten fortan ein Ehrenwort von allen Neumitgliedern, „frei von jüdischem oder farbigem Bluteinschlag“ zu sein und keine jüdischen oder farbigen Ehepartner zu haben oder künftig zu wählen.
Am 1.1.1934 wurde dem Männergesangverein Bürgeln ein Rundschreiben des „Führers“ des Sängerkreises 8 (Marburg) im Gau Kurhessen zugestellt und mitgeteilt, dass der Kreis über 3800 aktive Sänger verfüge. „Ich berufe zu Führern der Bezirke“ – dann folgen die einzelnen Gesangvereine und die Namen der neuen Vorsitzenden Es wird angeordnet, dass die jeweiligen „Führer“ ihre anderen Vorstandsmitglieder („Schriftwart, Kassenwart, Chormeister“) zu berufen haben. „Die Namen dieser Herren – genaue Postanschrift – sind mir unter Angabe der politischen Einstellung jedes Einzelnen bis zum 15. Januar schriftlich zu melden.“ Damit wurden nicht nur alle demokratischen Prinzipen über Bord geworfen, sondern zusätzlich die politische Überwachung aller Vorstandsmitglieder angeordnet. In dem Schreiben wird weiterhin verfügt, dass alle Chöre die Lieder „Lied des Volkes“ und „Jetzt kommt die Zeit, da ich wandern muss“ anschaffen und einüben müssen. Unterschrieben wird das Rundschreiben „Mit deutschem Gruß und „Heil Hitler“ Karl Dietrich, Kreisleiter.“
Diese Regelung, dass den Vereinen jedes Jahr Lieder zum Einstudieren vorgeschrieben werden, setzt sich in den folgenden Jahren weiter fort. Immer mehr müssen Marsch- und Wehrmachtslieder von den Gesangvereinen eingeübt und beherrscht werden. Sie kommen bei den Sängerfesten, Wertungssingen, dem „Heldengedenktag“ sowie bei Massenveranstaltungen des NS-Staates zum Vortrag. Ein Beispiel dazu: Am 28.4.1937 wurde angeordnet, dass beim Kreissängerfest dieses Jahres die Lieder „Dir möchte ich dies Lied weihen“ und „Es ziehen die Standarten“ eingeübt werden sollten. Beide Lieder sollten bei diesem Zusammentreffen als Massenchöre gesungen werden.
Auf dem Land ging man nach dem 30. Januar 1933 gegen Bauern vor, die Vieh an jüdische Händler verkauften. Sie wurden massiv unter Druck gesetzt. Man drohte ihnen, sie öffentlich an den Schwarzen Brettern der Dörfer als „Judenfreunde“ anzuprangern.
In der Kurhessischen Landeszeitung erschien unter der Rubrik „An den Pranger“ die Namen der Landwirte, die noch mit Juden Geschäfte abwickelten – zum Beispiel am 15., 20., 28. und 29. September 1933.
Zeitgleich erschien in der Oberhessischen Zeitung die Bekanntmachung des „1. judenfreien Viehmarktes“ in Marburg. „Es ist die Pflicht eines jeden Bauern, sein verkäufliches Vieh dort zum Verkauf anzubieten bzw. seine Ankäufe bei dieser Gelegenheit ohne den Juden zu tätigen. Kein Bauer darf den Besuch dieser Veranstaltung versäumen.“ Dieser Markt soll sehr erfolgreich gewesen sein. „Der Besuch ist so stark, dass man von einem der größten Viehmärkte der letzten Jahre sprechen kann“, heißt es in der Oberhessischen Zeitung danach.
Trotzdem waren viele Landwirte zunächst nicht bereit, ihre Viehgeschäfte ohne jüdische Händler zu tätigen.
Irmgards Cousine Erna Heß, die ein besonders attraktives Mädchen war, floh unter dem Eindruck all dieser Entwicklungen 1934 in die USA zu ihrem Bruder Julius, der bereits vorher – während der Weimarer Republik – dorthin ausgewandert war. Ihr jüngerer Bruder Fritz Heß erreichte die USA im Jahre 1936.
Zum Abschied lud Erna alle ihre Freundinnen und Freunde zu einer fröhlichen Feier in die Gaststätte Theiß ein, der spätere Gasthof Mitte.
Am 11. Januar 1935 wurde in Betziesdorf Margot Stern geboren, die Tochter von Julius und Berta Stern, geb. Katten. Irma war dabei, als gemeinsam Sterns gemeinsam mit Wertheims über den Vornamen des 2. Kindes berieten. Die Familie Stern floh später am 22.3.1938 in die USA, nachdem sie zuvor alle verbliebenen Lebensmittel und Haushaltsgegenstände an Freunde und bedürftige Betziesdorfer verschenkt hatten. Trinchen Dick, geb. Huneck (*1949) berichtete, dass die Familie ihrer Mutter wochenlang davon gezehrt hatte.
Am 30. Juni 1935 wurde es jüdischen Viehhändlern untersagt, das Schlachthaus in Marburg zu betreten. Mit bürokratischen Schikanen versuchte man dann, sie endgültig aus dem Wirtschaftsleben heraus zu drängen.
Im Oktober 1935 durften Tiere nur gegen einen Schlachtschein geschlachtet werden, in dem aufgeführt war, durch wen das Vieh gehandelt wurde. Im Dezember 1935 stellte die Gestapo in einem Lagebericht fest: „Die jüdischen Viehhändler sind zum Teil bereits vom Handel ausgeschaltet, wenngleich es auch hier noch manch weiterer Aufklärungsarbeit bedarf.“
Man muss annehmen, dass die Einkünfte in den Familien Wertheim und Hess dadurch auch rapide gesunken sind.
Immer häufiger kam es in Bürgeln vor, dass fanatische Nazis vor den Häusern beider Familien Nazi-Parolen brüllten – meist abends oder in der Nacht. Es ist auch vorgekommen, dass sie manchmal – einmal auch gemeinsam mit der Hitlerjugend - judenfeindliche Lieder sangen. Irmgard denkt heute noch schaudernd an das Lied „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht´s noch mal so gut!“, das sie vor ihrem Haus brüllten. Sie hatte dabei furchtbare Angst gehabt.
Immer häufiger kam es in Bürgeln vor, dass fanatische Nazis vor den Häusern beider Familien Nazi-Parolen brüllten – meist abends oder in der Nacht. Es ist auch vorgekommen, dass sie manchmal – einmal auch gemeinsam mit der Hitlerjugend - judenfeindliche Lieder sangen. Irmgard denkt heute noch schaudernd an das Lied „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht´s noch mal so gut!“, das sie vor ihrem Haus brüllten. Sie hatte dabei furchtbare Angst gehabt.
Genau gegenüber ihrem Elternhaus hatten die Nazis nach 1935 einen „Stürmerkasten“ aufgestellt: Einen Schaukasten, in dem „Der Stürmer“, ein antisemitisches Wochenblatt, jede Woche druckfrisch ausgehängt wurde. In dieser Hetzzeitschrift von Julius Streicher, dem Gauleiter Frankens, wurden die Juden karikaturhaft verzerrt als die Verkörperung des Bösen schlechthin dargestellt. „Die Juden sind unser Unglück!“ stand nicht nur auf jeder Titelseite am unteren Seitenrand, sondern prangte auch in großen Lettern über vielen der so genannten „Stürmerkasten“. Die Juden wurden auch für die Niederlage im 1. Weltkrieg verantwortlich gemacht. In den Stürmer-Kästen wurden auch Menschen denunziert, die bei Juden kauften oder mit ihnen Geschäfte machten. Ob dies auch in Bürgeln geschah, weiß Irmgard heute nicht mehr.
Ein weiterer Stürmerkasten befand sich 50 Meter von dem Haus der Familie Heß entfernt gegenüber Heimrichs Schmiede am Garten des Hofes, in dem sich heute das Heimatmuseum befindet. Heinrich Heimrich kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie wöchentlich die Seiten ausgewechselt wurden. Mit Reißzwecken habe man den Stürmer befestigt, wie er mir in einem Telefongespräch am 4.3.2016 berichtete.
Am 15. Dezember 1935 wurden die Nürnberger Gesetze beschlossen.
Reichsbürger konnte danach nur sein, wer „deutschen oder artverwandten Blutes“ war. Damit waren die jüdischen Mitbürger nicht mehr Angehörige des deutschen Volkes. Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden wurden verboten. Liebesbeziehungen zu Menschen jüdischen Glaubens wurden als „Rassenschande“ verfolgt.
Juden wurde mit diesen Gesetzen auch das Wahlrecht entzogen.
In dem Kommentar zu diesem Gesetz formulierten Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Innenministerium und Ministerialrat Hans Globke – der als Intimus Konrad Adenauers später nach 1945 als Kanzleramtschef eine beachtliche Karriere hinlegte – das Ziel des NS-Rassenrechtes: Dass das ins deutsche Volk „eingedrungene jüdische Blut soweit als möglich wieder ausgeschieden“ werden müsse.
Nach der Verkündung der Gesetze war Julius Stern aus Betziesdorf zu Besuch bei Wertheims. „Julius, was ist denn Rassenschande?“ fragte Irmas Mutter ihren Freund. Bevor Julius Stern genauer erklä#ren konnte, was man unter diesem Begriff zu verstehen hatte, brachte man Irma vor die Tür. „Das ist nur etwas für Erwachsene!“ Irma war darüber sauer.
Diese Dauerhetze, mit der vor allem auch vor der „Degeneration der nordisch-germanischen Rasse“ durch „Rassenschande“ mit Juden gewarnt wurde, trug ihren Teil dazu bei, die einheimische Bevölkerung des Dorfes politisch im Sinne der Nazis zu beeinflussen.
An einem Tag wurden die Fensterscheiben des Wertheimschen Hauses mit Steinen eingeworfen. Ein anderes Mal ist Erich Wertheim – er war damals 15 Jahre alt gewesen - von Gleichaltrigen verprügelt worden - nur weil er Jude war.
Dann wurde das Fahrrad von Isidor Wertheim gestohlen. Man hatte auf dem Hof das Kettenschloss aufgebrochen. Die Familie hat das Rad nie wieder gesehen.
Irmgards Familie und die Familie Hess lebten deshalb während dieser Zeit in ständiger Angst.
Und dennoch schrieb Isidor Wertheim einmal auch einen Brief an Adolf Hitler, in dem er ihn bat, der hörbehinderten Witwe Annchen Schmidt – Schmidts hatten den Dorfnamen „Wagnersch“, ein Hörrohr zur Verfügung zu stellen. Sie wohnte mit einem Sohn und der Tochter Elisabeth („Lisbeth“) direkt hinter dem Haus des Schuhmachermeisters Kuhn im 2. Stock.
„Stell Dir das einmal vor: Ein Jude bittet Hitler um ein Hörrohr für ein christliches Mädchen!“ sagte mir Irma dazu am Telefon.
Bruder Erich hatte noch das Schwimmen im Marburger Luisa-Bad gelernt. Nach 1933 trauten sich die Eltern nicht, mit Irma in das Bad zu gehen, da sie befürchteten, dort Schwierigkeiten zu bekommen. In vielen öffentlichen Bädern in Deutschland war bereits seit dem Sommer 1933 Juden dort das Baden verboten worden. Schwimmen lernte Irmgard dann später in England.
Irmgard kann sich nicht mehr daran erinnern, wann ihr Vater seine Existenz als Viehhändler hat aufgeben müssen. Die Bauern hatten Angst, von ihm Vieh zu kaufen.
Ab dem 26.1.1937 durften Juden keine Viehhändler mehr sein. Im Mai 1938 wurde gemeldet, dass alle jüdischen Viehhändler ihre Tätigkeit eingestellt hatten. Waren in Kurhessen 1933 noch 435 „arische“ und 360 jüdische Viehhändler registriert, so erlosch im Februar 1938 jegliche jüdische Beteiligung am Viehhandel.
Die Familie von Irmgard in Bürgeln hatte aber noch etwas Land im Betziesdorfer Feld direkt neben der Schlittenbahn, dem Rödchen, die Viehweide an der Ohm und den Gemüsegarten, die zwei Kühe und die Hühner, so dass sie in sehr bescheidenem Maße eine Lebensgrundlage hatten. Irmgard drückt es so aus: „Wir waren ja nicht so anspruchsvoll“.
Irmgards Vater war der Meinung, dass die Nazis nicht ewig an der Macht bleiben konnten. „Der liebe Gott wird das nicht zulassen!“ Er fühlte sich und seine Familie auch dadurch geschützt, dass er als Weltkriegssoldat das Eiserne Kreuz verliehen bekommen hatte.
Die Familien Hess und Wertheim erkannten aber bald immer mehr, dass sie in Deutschland wohl doch keine Zukunft mehr hatten.
Erich Wertheim, der Sohn von Isidor und Berta, absolvierte nach seiner Schulzeit in Bürgeln mit 14 Jahren in Frankfurt eine Ausbildung zum Schlosser in einer jüdischen Einrichtung, die ihn dazu befähigen sollte, bessere Chancen für die Auswanderung in die USA zu bekommen.
Zu Hause fasste er immer mit an, um seine Eltern bei der Landwirtschaft zu unterstützen. Er molk beispielsweise immer die Kühe mit der Hand, was für Irmgard zu schwer war.
1938 trat Erich die große Reise über den Atlantik an. Beim Abschied in Bürgeln waren alle froh darüber, dass er nun bald in Sicherheit sein würde. Irmgard und ihre Eltern konnten nicht ahnen, dass sie Erich – er war damals 16 Jahre alt - nie mehr wieder sehen würden.
1936 oder 1937 – Irmgard kann sich nicht mehr an das genaue Jahr erinnern – gab es das Gerücht, dass Adolf Hitler nach Marburg kommen würde. In der Bürgelner Schule bereiteten sich Lehrer und Schüler darauf vor, dem „Führer“ beim Vorbeifahren der Wagenkolonne mit Hakenkreuzfähnchen am Chausseehaus zuzuwinken. Der Lehrer Wilhelm Hesse erkannte in der Schule sofort die peinliche Situation für Irmgard und sagte zu ihr, sie brauche nicht mit einem solchen Fähnchen zu winken. Sie solle stattdessen Blumen pflücken und sie am Ende eines Stockes befestigen. Mit dem könne sie dann winken. Adolf Hitler kam aber an diesem Tage nicht und so mussten alle unverrichteter Dinge wieder zur Schule zurück laufen.
Fast alle ihre Mitschülerinnen und Mitschüler waren Mitglieder im Jungvolk oder bei der Hitlerjugend bzw. dem BDM – dem Bund Deutscher Mädel. Irmgard wäre so gerne auch mit dabei gewesen. Sie blieb aber natürlich außen vor, weil sie eine Jüdin war.
Am 27. August 1938 wurde in Bürgeln das 1. HJ-Heim im Landkreis Marburg eingeweiht. Mit dabei waren die höchsten Nazi-Funktionäre: Der Kreisleiter der NSDAP von Löwenstein und der Landrat Krawielietzki. Die Hitlerjugend war angetreten und es wurden markige Reden gehalten.
In diesem Haus wurden die Jungen und Mädchen des Dorfes bei den wöchentlichen Nachmittagen und Heimabenden im nationalsozialistischen Gedankengut geschult. Teilnahme war Pflicht.
Dabei war Bürgeln eigentlich ein Dorf gewesen, das nicht so fanatisch nationalsozialistisch gewesen ist wie andere, wie Irmgard betont.
Auch in der Schule trugen die neu angeschafften nationalsozialistischen Unterrichtswerke ihren Teil zur Indoktrination der Bürgelner Kinder bei. In Ihnen wurde das politische System des Nationalsozialismus und seine Weltanschauung verherrlicht. Auch die Nazi-Schülerzeitschrift „Hilf mit!“ musste jeder Schüler besitzen. Im Unterricht wurden ganze Abschnitte daraus vorgelesen. Anschließend mussten die Schüler Aufsätze dazu verfassen.
All dies sollte unter anderem auch die Vorbehalte gegenüber den jüdischen Mitbürgern verstärken und den Hass auf sie schüren.
Irmgard wurde immer mehr von ihren Klassen- und Spielkameradinnen geschnitten. Ab etwa 1937 war sie so gut wie völlig isoliert. Alle ihre Freundinnen bekamen von ihren Eltern verboten, mit ihr zu spielen. Wenn sie sich bei ihrer Mutter darüber beklagte, erwiderte diese: „Du hast doch mich!“
Auch die verbalen Ausfälle ihr gegenüber – heute würde man von Mobbing sprechen – nahmen in der Schule zu. Sie wurde sehr oft als „Judenstinker“ beschimpft. Auf dem Schulhof ließ man sie alleine stehen.
Als sie sich einmal 1937 – „in meiner großen Naivität“, wie sie später bekannte - über die Hänseleien ihrer Mitschüler bei ihrem verständnisvollen Lehrer Wilhelm Hesse beschwerte, habe er gesagt, er könne das leider nicht verhindern. Er riet ihr deshalb, auf die jüdische Schule nach Marburg zu wechseln. Sie hat noch am selben Tag ihren Eltern zu Hause von diesem Gespräch berichtet. Kurz danach ging sie dann auf die jüdische Schule in Marburg, die in der großen Synagoge an der Universitätsstraße untergebracht war. Dort unterrichtete der Lehrer Salomo Pfifferling acht Schulklassen in einem Raum.
Im April 1938 mussten die Juden ihre Vermögensverhältnisse offenlegen. Nur einen Monat später erhielten sie keine öffentlichen Aufträge mehr.
Im August 1938 wurden alle Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland dazu verpflichtet, ihre Kinder nur noch jüdische Vornamen zu geben. Zusätzlich mussten alle Männer noch den Namen „Israel“ und die Frauen den Namen „Sarah“ als zweiten Vornamen benutzen. Irmgard hieß nun Irmgard Sarah Wertheim. Und sie bekamen als Staatenlose noch einen Stempel mit dem großen Buchstaben „J“ in ihren Pass gestempelt. Das Verschweigen dieses Zwangsvornamens wurde bestraft.
Am 8. November 1938 fanden Schüler der jüdischen Schule vor der Synagoge eine Flasche mit einer brennbaren Flüssigkeit. Man verständigte die Polizei und händigte ihnen den Gegenstand aus. Einen Tag später, in der Reichspogromnacht am 9. November 1938, wurden überall im Land die Synagogen verwüstet oder in Brand gesteckt. Auch die in Marburg. In der Nacht vom 9. Auf den 10. November entzündete die Marburger SA mit flüssigem Bohnerwachs das jüdische Gotteshaus in der Universitätsstraße. Zeitgleich wurden Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte in Marburg eingeschlagen und Waren auf die Straße geworfen.
Irmgard fuhr am nächsten Morgen mit der Bahn zu ihrer Schule nach Marburg. Als sie um den Rudolphsplatz bog, sah sie die lodernden Flammen in der Universitätsstraße. Die Feuerwehr war voll im Einsatz. Sie löschte nicht den Brand, sondern versuchte mit allen Mitteln zu verhindern, dass das Feuer von der brennenden Synagoge auf die angrenzenden Häuser übersprang. Irmgard war völlig erschüttert darüber, dass ihre wunderschöne Synagoge ein Opfer der Flammen wurde.
Sie blieb nicht lange an der Brandstelle, sondern machte sich schnell auf den Weg zu ihrer Tante Frieda Wertheim, die als Haushälterin bei dem alten Kaufmann Isaak Strauß in der Wettergasse 2 wohnte und arbeitete. Sie war in Bürgeln geboren und aufgewachsen. Um 1900 verkaufte ihr Vater das Haus in der Marburger Landstraße 34. Unterwegs zu Frieda Wertheim konnte Irmgard beobachten, wie Polizei jüdische Männer verhaftete. In ihrer Naivität glaubte sie zunächst, sie würden verhaftet, weil sie eventuell die Synagoge in Brand gesteckt hätten! Insgesamt wurden an diesem Tag in der Stadt Marburg 31 jüdische Männer verhaftet.
Als sie am Nachmittag wieder ihr Elternhaus erreichte, rief sie ihrer Mutter schon auf der Hofeinfahrt zu, dass man die Synagoge in Marburg angesteckt hatte und jüdische Männer verhaftet würden.
Am nächsten Tag, Freitag, dem 11. November 1938 – Irma war gerade beim Bohnern des Wohnzimmers - klingelte der Dorfpolizist Behrend aus Cölbe an der Haustür. Behrend war vor 1933 ein guter Freund von Isidor gewesen. Er sagte, dass er schon am Vortag habe kommen sollen. Er habe das aber unterlassen, weil er wusste, dass Irmgards Vater noch einen wichtigen Termin gehabt habe. Er sei nach Bürgeln gekommen, um ihn zu verhaften. Hatte Behrend gehofft, dass sich Isidor – mit einem Vorsprung von einem Tag - inzwischen in Sicherheit gebracht haben könnte?
Nach allem, was ich über den Cölber Dienststellenleiter Behrend erfahren und recherchiert habe, muss es sich bei ihm um einen sehr human denkenden und handelnden Menschen gehandelt haben. Einen Tag vor der Deportation der Sinti-Familie Strauß 1943 in Cölbe hat er beispielsweise – wohl unmittelbar nach dem Erhalt des Befehls – die Familie vor der Deportation gewarnt und sie aufgefordert, sofort aus Cöölbe zu verschwinden. „Wohin soll ich denn gehen?“ fragte der verzweifelte Ewald Strauß den Gendarmen.
Man brachte Isidor am 11.11.1938 mit den anderen jüdischen Männern des Landkreises Marburg mit der Bahn nach Kassel und von dort in das Konzentrationslager Buchenwald. Albert Hess blieb dieses Schicksal – vermutlich wegen seiner Kriegsverletzung – erspart.
Am nächsten Tag lief Irmgard mit ihrer Mutter zu ihren Verwandten nach Kirchhain. Adolf Wertheim war nicht mehr bei seiner Familie. Am Abend des 9. November hatten ihn Nazis in seinem Haus unter der Führung eines fanatischen SS-Mannes halbtot geschlagen, so dass man ihn nach Marburg ins Krankenhaus bringen musste. Erst nach 5 Wochen wurde er entlassen. Von diesem Vorfall hatte man Irmgard aber bei dem Besuch aber nichts erzählt.
Da es nun keinen Schulraum mehr in Marburg für die jüdischen Schülerinnen und Schüler gab, erklärte sich eine Frau Bornstein in Marburg bereit, ein Zimmer ihrer Wohnung für den Unterricht zur Verfügung zu stellen.
Der Dirigent des Männergesangvereins, Fritz Windel, der den Chor von 1921 bis 1937 geleitet hatte, sagte nach dem Synagogenbrand zu Berta Wertheim, er habe die brennende Synagoge in Marburg gesehen. Er wohnte in der direkten Nachbarschaft, im Haus Untergasse Nr. 8. Der Anblick sei für ihn unerträglich gewesen. „Eine furchtbare Geschichte“ habe er gesagt. Wie viele Marburger hatten wohl ähnlich gefühlt?
Ab Mitte November 1938 schlossen die Behörden jüdische Kinder vom Besuch deutscher Schulen aus. Aber da war Irmgard ja schon auf der Marburger jüdischen Schule. Im Februar 1939 kam Isidor Wertheim mitten in der Nacht mit der Bahn - “schmutzig und abgemagert” berichtete Irmgard - wieder zu Hause in Bürgeln an. Von dem Fahrgeld hatte er noch etwas übrig. Davon hatte er noch ein Täfelchen Schokolade “für sein kleines Mädchen” Irmgard gekauft.
Isidor Wertheim kam als leidender und gebrochener Mann zurück zu seiner Familie zurück. Die Erfahrungen im Lager – man hatte ihn dort schwer misshandelt - hatten aus ihm einen anderen Menschen gemacht. „Der Mann auf dem Foto von 1939 war nicht mehr mein Vater, wie ich ihn zuvor gekannt hatte. Er sah auch anders aus“, erzählte Irmgard mir später.
Hatte er sich vor seiner Verhaftung noch zuversichtlich gezeigt, die Familie werde die Nazizeit überstehen können, so änderte er nun seine Meinung. Er betrieb umgehend die Auswanderung seiner Familie.
In den 30er Jahren nach dem Machtantritt der Nazi-Regierung – Irma weiß nicht mehr genau, wann dies geschehen ist, schrieben Bürgelner einen Brief an den Landrat, in dem sie Partei für Isidor Wertheim ergriffen und ihn als „guten Deutschen“ bezeichneten und darauf drangen, ihn gut zu behandeln.
Martin Hess, der 15jährige Cousin von Irmgard, versuchte am 13.Mai 1939, zusammen mit 905 verfolgten Jüdinnen und Juden – darunter viele ehemalige KZ-Häftlinge - von Hamburg aus mit dem Dampfer „St. Louis“ nach Kuba zu gelangen, um von dort aus die USA zu erreichen, wo sich seine Geschwister bereits befanden.
Mit an Bord der St. Louis war auch die Familie von Philipp und Jenny Banemann aus Burgkunstadt in Franken mit ihrer Tochter Margit. Martin freundete sich sofort mit ihnen an.
Da die Einreisegenehmigungen für den Transit von der neuen Regierung in Kuba für ungültig erklärt wurden, musste das Schiff mit fast allen Passagieren – 23 durften die St.Louis verlassen – wieder zurück fahren. Der deutsche Kapitän Gustav Schröder versuchte die Passagiere in Florida an Land zu bringen. Dies gelang ihm ebenso wenig wie die Erlaubnis, die verfolgten Menschen nach Kanada zu bringen. Die jüdischen Passagiere befürchteten, in Deutschland in KZ´s eingeliefert zu werden. Sie gerieten zum Teil in Panik und drohten mit Massenselbstmord oder Meuterei. Nach zähen Verhandlungen mit seiner Reederei hatte Kapitän Schröder damit Erfolg, seine Passagiere in Antwerpen von Bord gehen lassen zu dürfen. Nur einem Viertel von ihnen gelang die Einreise nach Großbritannien. Die restlichen wurden auf Frankreich, Belgien und die Niederlanden verteilt, wo fast alle von ihnen nach dem Einmarsch der deutschen Truppen verhaftet und in die Vernichtungslager deportiert wurden.
Albert und Berta Hess, die am 24.5.1939 in die USA auswandern konnten, hatten sofort Erfolg damit, ihren Sohn Martin von Holland aus - noch nach Kriegsbeginn - zu sich in die USA zu holen.
Als Berta und Albert Hess vom Schicksal der St. Louis erfuhren, setzten sie von den USA aus alle Hebel in Bewegung, um Martin in die USA nachholen zu können. Es gelang ihnen im letzten Moment. Martin konnte von Holland aus – noch nach Kriegsbeginn – gemeinsam mit den Banemanns mit einem Schiff in die USA entkommen.
Martin Hess absolvierte eine kaufmännische Ausbildung und gründete danach mit Margit Banemann eine Familie. Mit 42 Jahren starb er 1966 an einem Herzschlag während der Arbeit.
Seine beiden Kinder Alan und Debby waren damals 6 und 4 Jahre alt. Alan erlitt später einen schweren Unfall. Als er einen Kopfsprung in zu seichtes Wasser machte, brach er sich die Wirbelsäule. Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Er kann seine Arme nicht bewegen. Er lebt in Baltimore.
Als bei Wertheims in Bürgeln die Ausreisepapiere nach England in Bürgeln eintrafen, packten sie unter der Aufsicht eines Marburger Beamten die Koffer. „Bitte verpacken Sie keine Gold- oder Silbersachen. Ich müsste sie Ihnen dann konfiszieren,“ sagte er sichtlich betroffen zu ihnen.
Als die Ausreisepapiere nach England in Bürgeln eintrafen, packten sie unter der Aufsicht eines Marburger Beamten die Koffer. „Bitte verpacken Sie keien Gold- oder Silbersachen. Ich müsste sie Ihnen dann konfiszieren,“ sagte er sichtlich betroffen zu ihnen.
Am 2. August 1939 gingen Isidor und Berta Wertheim mit ihrer Tochter Irmgard zum Bürgelner Bahnhof. Kurz vor dem Bahnhof verabschiedete sich noch Wilhelmine Seibel, die Frau des örtlichen Metzgers, von ihnen. Sie war die einzige Person aus Bürgeln, die sich das traute.
Heinrich Heimrich, der Klassenkamerad von Irmgard, schreibt dazu in seiner Dorfchronik: „Das Unglück, welches der Nazi-Terror in Deutschland über diese Familien gebracht hat, ist nicht wieder gutzumachen. (…) Ich kann noch aus meiner eigenen jugendlichen Erinnerung überliefern, dass einige Aktivisten der Nazi-Organisationen vor den Judenhäusern abends die Familien mit antijüdischen Parolen belästigten und beschimpften. Die zunehmende Entrechtung und fortschreitende Diskriminierung in den 1930er Jahren führten schließlich dazu, dass unsere beiden jüdischen Familien Wertheim und Hess Deutschland 1939 verließen und nach England und die USA flüchteten.“
Es gelang Irmgard, Berta und Isidor Wertheim, von Ostende aus mit einem Schiff London zu erreichen. Die ersten beiden Tage verbrachten sie bei einem Cousin von Isidor Wertheim in London. Dann wurden sie in die Grafschaft Leicestershire in Mittelengland weitergeleitet, wo die Familie ein Zimmer in einer großen Farm zugewiesen bekam. Isidor Wertheim arbeitete dort als Arbeiter auf der Farm, die schon über eine elektrische Melkanlage verfügte. Er musste aber nach dem Melken die Kühe noch mit der Hand ausmelken, damit sie keine Euterentzündung bekamen.
Als sie nach England kamen, sprachen sie natürlich kein Englisch. Einmal fragte man sie, ob sie Jiddisch sprechen könnten. „Jiddisch? Wir hatten noch nie etwas davon gehört!“
Zu Hause wurde ausschließlich Deutsch gesprochen. Hebräisch kannten sie nur – auswendig gelernt - aus Abschnitten der Thora, Psalmen und Gebeten sowie Redewendungen aus den Gottesdiensten in der Synagoge. Und es gab natürlich eine ganze Reihe jüdischer Wörter, Begriffe und Zahlen auf Hebräisch.
Der Farmer behandelte sie nicht gut. Die Entlohnung erfolgte zumeist in Naturalien. „Ihr könnt froh sein, dass Ihr überhaupt hier seid!“, hatte er ihnen einmal gesagt. Erst auf Druck der Behörden ließ er Isidor Wertheim krankenversichern. Berta Wertheim bekam eine Stelle als Haushaltshilfe bei einer Fabrikantenfamilie.
Irmgard ging zur Schule und erlernte neben der englischen Sprache auch Grundlagen der Bürowirtschaft.
Die Einwanderungsgenehmigung für die USA ließ allerdings auf sich warten.
1940 beschloss die britische Regierung, alle männlichen deutschen Emigranten als „feindliche Ausländer“ zu internieren. Das galt auch für alle geflüchteten Juden und politische Gegner des Naziregimes aus Deutschland.
Isidor und Berta Wertheim wurden Ende Mai 1940 in das Internierungslager auf der Isle of Man gebracht. Auch Siegfried Katz, der Sohn von Betty, Irmgards Cousin, der Siggi genannt wurde, kam in das Lager, in welches später auch deutsche Kriegsgefangene eingeliefert wurden. Als diese herausgefunden hatten, dass Siggi Jude war, haben sie ihn ständig verhöhnt und beschimpft. Und wieder wurde das Lied „Wenn das Judenblut vom Messer spritzt…“ intoniert. Siggi wurde dann später mit den deutschen Soldaten nach Kanada transportiert. Unterwegs dorthin hatte man ihn aber von der Soldateska getrennt. Siggi lebt heute noch mit über 90 Jahren in Kanada. Seinen Familiennamen Katz hat er in Keats umbenannt. Seine deutsche Heimat wollte er nie mehr wiedersehen.
Als ihre Eltern auf die Isle of Man transportiert wurden, brachte man Irmgard in einer englischen Familie in Kent unter. Die Hausherrin entschied, dass Irmgard kein englischer Name sei. Sie redete sie nur noch mit Mary an. Und sie befahl Irma, ihre deutschen Kleider abzulegen. Dafür bekam sie neue englische. Als sie sich im Spiegel ansah, konnte sie sich nicht mehr als Irmgard Wertheim erkennen. Das muss eine traumatische Erfahrung für sie gewesen sein, wie sie später ihrer deutschen Freundin Gundula Ullrich anvertraute.
Die streng gläubigen Anglikaner nahmen sie jeden Sonntag mit in die Kirche und wollten auch, dass sie zum Christentum übertreten solle. Der einsichtige Pastor sagte ihnen aber, dass man dies - so lange die Eltern noch lebten - auf keinen Fall tun.
Da Isidor Asthmatiker war, wurde er mit seiner Frau Berta innerhalb eines Jahres wieder aufs Festland in die Freiheit entlassen. Irma war dann wieder mit ihren Eltern vereint. Sie hatte damals schon angefangen, in einem Büro zu arbeiten.
Isidor arbeitete dann auf einer anderen Farm. Er konnte aber nur noch leichtere Tätigkeiten ausüben.
Im April 1945 erhielten sie dann die Nachricht, dass ihr Bruder und Sohn Erich Wertheim als US-Soldat bei der Befreiung Manilas von den Japanern auf den Philippinen gefallen war. Er wurde nur 23 Jahre alt. Welcher Verlust für die Familie!
Im Juni erfuhren sie, dass Isidors Schwester Frieda Gunzenhäuser mit ihrem Mann Hely – beide wohnten in Laasphe - sowie seine Cousine Jettchen Marx und seine Cousine Frieda Wertheim 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden. Sie bekamen auch die Mitteilung, dass Betty Katz, die andere Schwester von Isidor, mit ihrem Mann Max und der Tochter Irene am 30. September am selben Ort dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer gefallen waren.
Das alles war wohl zu viel für Isidor Wertheim gewesen. Zwei Monate später kam er an einem Freitagabend aus der Synagoge zurück. In der folgenden Nacht starb er mit 54 Jahren im September 1945 an einem Herzinfarkt. Er wurde auf einem Friedhof in der Nähe von Newcastle beerdigt. Das Grab wird heute noch gepflegt.
Als ihr Vater starb, sagte ihre Mutter zu Irmgard: „Ich muss jetzt für Dich leben!“ Als sie mir davon berichtete, zitierte Irma das Gedicht: „Wenn Du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden. Nicht jedem auf dem Erdenrund ist dieses große Glück beschieden!“
Ein Jahr darauf erhielten Berta und Irma Wertheim die erforderlichen Papiere für die Einreise in die USA. Im August 1946 erreichten sie mit dem Schiff „Queen Elizabeth“ New York.
Als sie in New York mit der „Queen Elizabeth“ 1946 die Freiheitsstatue passierten, war es Nacht. Sie konnten deshalb das Symbol ihrer Rettung nicht sehen. Das habe sie später nachgeholt, erzählte sie mir. Am Kai standen Martin Hess mit seinem Bruder Fritz und dessen Frau. Sie haben heftig gewunken, als sie ihre beiden Verwandten aus Bürgeln an der Reling erkannten. Es dauerte aber sehr lange, bis sie von Bord gehen konnten. „Du siehst ja gar nicht aus wie eine Amerikanerin!“ sagte Martin zu Irmgard. Dann nahm er sie bei der Hand und ging mit ihr in ein Bekleidungsgeschäft, wo sie neu eingekleidet wurde.
Irmgard lernte in den USA den deutschstämmigen Juden Lothar „Lou“ Pretsfelder aus Fürth kennen und lieben. Lou war schon im Jahr 1933, nach dem Machtantritt der Nazis, angewidert von dem Judenhass auf der Straße, in die USA geflohen. Er sprach fast akzentfrei Englisch. Seine jüngere Schwester war in Fürth Klassenkameradin von Henry Kissinger gewesen, der – wie Irma äußerte, Englisch mit „einem grässlichen Akzent“ spricht.
Mit Lou hat Irma 2 Kinder: Shelly und Jeffrey. Mit Lou hat Irma fast nur Englisch gesprochen, manchmal aber auch Deutsch. Mit ihrer Mutter sprach Irma ausschließlich Deutsch. „Das war doch meine Muttersprache“, sagte sie mir. „Englisch hätte nicht ehrlich genug geklungen.“
Lou war in seinem Viertel als geschätzter Helfer bekannt – was die Reparatur von Heizungs- und Sanitäranlagen oder die Hauselektrik betraf.
Er kaufte auch als erstes Auto einen deutschen Volkswagen, was viele seiner jüdischen Freundinnen und Freunde erzürnte. Er blieb aber dabei, weil er die Qualität deutscher Produkte schätzte. Und er liebte deutsches Essen. U.a. auch Bratheringe, die es nur in Geschäften zu kaufen gab, die deutsche Lebensmittel führten.
Irma und Lou führten eine sehr glückliche Ehe. Ihr Sohn Jeff studierte Jura und arbeitete anschließend erfolgreich als Anwalt. Shelly ist Rabbinerin in einer reformjüdischen Gemeinde in Philadelphia.
Lou Pretsfelder starb 2014 mit 97 Jahren. Bis zum Schluss war er noch glockenklar im Kopf gewesen. Genau so wie ihre Mutter Berta, die 98jährig im Jahre 1990 starb. Kurz vor ihrem Tod hat sie noch ihrer Tochter gesagt: „Der liebe Gott hat immer seine Hand über Dich gehalten!“ Eine halbe Stunde später war sie sanft eingeschlafen.
Irma – so nennt sie sich seit Jahren – lebt in Baltimore USA.
Sie hatte eine sehr starke Verbindung zu ihrem Cousin Siegfried Katz – Siggi Keats
nannte er sich nach seiner Flucht aus Deutschland. Er ist der Sohn von Irmas Tante Betty, der Schwester von Irmas Vater Isidor. Sie telefonierten bis zu Siggis Tod am Syvester 2019 jeder Woche mindestens einmal miteinander.
Im Januar 2016 klingelte bei mir das Telefon. „Irma hatte mir gesagt, ich solle unbedingt einmal mit Ihnen sprechen!“ Es war Siggi. Er verbrachte die kalte Jahreszeit (November bis April) immer in seinem Appartement in Florida, das er sich - „sehr billig“, wie er sagte - 25 Jahren zuvor gekauft hatte.
Es liegt direkt am Strand. Er mailte mir nach dem Gespräch ein Foto, das er mit seinem Smartphone aufgenommen hatte. Er wurde 1922 in Watzenborn geboren. Seine Mutter Betty geb. Wertheim, die Schwester von Isidor, sein Vater Max und seine Schwester Irene wurden von den Nazis 1942 in Treblinka ermordet. Er hat als einziger seiner Familie überlebt.
Er war aus dem Internierungslager auf der Isle of Man mit anderen Deutschen, darunter vielen Nazis, die im Lager das Lied „Wenn das Judenblut…“ gesungen hatten, als sie bemerkten dass er Jude war. Auf dem Transport nach Kanada wurde er von ihnen getrennt. Nach kurzer Zeit wurde er wieder entlassen und kam nach England zurück. Er diente in der Britischen Armee in einer technischen Einheit.
Nach dem Krieg studierte er 3 Jahre an einer technischen Uni in London. Dort lernte er seine spätere kanadische Frau kennen. Sie bekamen Kinder und zogen nach Montreal. Dort eröffnete er eine Fabrik für Plastikflaschen, mit der er viel Geld verdiente. Oft fuhr er nach Deutschland, weil dort die Firmen waren, die die Maschinen für seine Fabrik bauten. Er besuchte dann auch regelmäßig seine Klassenkameraden in Watzenborn. Heute lebt keiner mehr von ihnen.
Sein Heimatdorf Watzenborn sei das musikalischste Dorf Deutschlands, berichtete er mir. Es gebe dort mindestens 5 Gesangvereine und das schon seit vielen Jahrzehnten! Nach dem Telefonat machte ich eine kurze Internetrecherche. Es stimmte alles, was mir Siggi erzählt hatte. Dann fragte er mich.: „Was machen 2 Deutsche, die sich im Ausland treffen?“ „Keine Ahnung!“ sage ich. „Sie gründen einen Gesangverein!“
Sigi redet so ähnlich wie Irma: Sehr lebendig und sprachlich gewandt. Er benutzte nur in Ausnahmefällen Englisch, um sich auszudrücken. Er liebt es, Witze zu erzählen. Berta hat ihn sehr gemocht. „Alles, was Siggi sagte, fand sie gut!“ erzählte mir Irma.
Jahrelang hat Irma davon geträumt, vor Bürgeln zu stehen, aber nicht hineingehen zu können. Erst als Shelly Mitte der Achtziger Jahre dort gewesen ist, habe sie das nicht mehr geträumt. Sie habe auch zuvor eine psychoanlalytische Therapie gehabt, wo man sich mit diesem Traum befasst hatte.
Bürgeln hat sie drei Mal besucht – zwischen 1988 und 1998 - und sich mit ihren ehemaligen Klassenkameradinnen und –kameraden getroffen. Sie telefoniert auch noch regelmäßig mit ihrer alten Schulfreundin Anna Busch, dem Dorfchronisten Heinrich Heimrich sowie mit Elli Krantz, der Witwe ihres alten Klassenkameradens Christian Krantz. Von ihrer alten Bürgelner Schulklasse leben jetzt (2016) nur noch vier.
„Bei den Besuchen in Bürgeln hat nie jemand zu mir gesagt, dass es ihm Leid tue, was uns passiert ist!“ beklagte sie sich einmal bei mir. „Auch haben sie nie danach gefragt, was wir dabei gefühlt haben oder was uns alles passiert ist.“ Ich entgegnete ihr, dass bestimmt bei allen ehemaligen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden eine Scham über das, was geschehen war, vorhanden gewesen sei. Ihren Besuch habe man als Geste verstanden, dass sie ihnen vergeben habe. Deshalb habe man auch nicht mehr die alten Dinge, die geschehen sind, wieder aufgegriffen, um sie nicht zu verletzen. Das hat Irma verstanden.
Wie sehr Irmas Schicksal und das ihrer Familie manche berührt hat, sieht man vor allem an Heinrich Heimrichs Teil seiner Ortsgeschichte, die von den jüdischen Bürgern in Bürgeln handelt.
Die ehemaligen Bürgelner Klassenkameradinnen und -kameraden haben sich auch Briefe und Karten geschickt. Irma schrieb 2005 an Heinrich Heimrich. „Es ist immer schön, von seinen Schulfreunden zu hören. Nachdem meine liebe Mutter und Erna Hess gestorben sind, wird mein Deutsch allerdings selten geübt.“ Es machte ihr schon Probleme, sich in flüssigem Deutsch schriftlich auszudrücken. Aber sie berichtete auch in einem Brief an Heinrich Heimrich, dass sie regelmäßig mit Anna Busch telefoniert.
Heinrich Heimrich hat im Dezember 2006 Irmgard geschrieben: „Ich vermag es kaum zu begreifen, dass nun schon 80 Jahre vergangen sind, aus denen wir schöne Jugenderinnerungen schöpfen können, aber Du auch viel Leidvolles erleben musstest. Ich bin froh und dankbar, dass wir trotzdem heute noch Kontakt miteinander haben.“
Als in den USA ihre Cousine Erna starb, erbte sie von ihr eine Bürgelner Trachtenpuppe mit der protestantischen Tracht. Ein sehr kostbares Stück, wurde sie doch in vielen Stunden in Handarbeit fertig gestellt. Irma hält bis auf den heutigen Tag diese Puppe in Ehren, auch wenn die Gummiteile spröde geworden sind, wie sie sagt.
Sehr gerne würde sie noch einmal Bürgeln sehen. Denn je älter sie wird, desto mehr kommen die Erinnerungen an ihre Kindheit wieder hoch - auch sehr viele schöne.
Sie kann sich noch an jeden Winkel ihres alten Elternhauses, das jetzt nicht mehr steht, erinnern. Und sie kann sich noch an den Geschmack von frischem Zwetschgenkuchen erinnern.
Irma fallen immer noch sehr viele deutsche Volkslieder und Gedichte ein. Die Lieder hört sie sich dann oft auf youtube an. Sie ist noch in der Lage, ganze Verse von Schillers „Glocke“ oder von Liedern wie „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ deklamieren.
Einmal zitierte sie auch ein Lied, das auch von Marlene Dietrich gesungen wurde: „Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die Mädchen die Fenster und die Türen. Ei warum? Ei darum! Ei warum? Ei darum! Ei bloß wegen dem Schingderassa, Bumderassasa! Ei bloß wegen dem Schingderassa, Bumderassasa!“
„Ein Mantel und ´ne Kuh deckt jede Armut zu!“ zitierte sie ein anderes Mal.
Manchmal lacht sie, wenn ich Wörter benutze, die einen hebräischen Ursprung haben, wie zum Beispiel „Schlamassel“.
Irma erzählte mir, dass viele Überlebende nach ihren Erfahrungen mit den Nazis entschieden hatten, kein Deutsch mehr zu sprechen oder nie wieder Deutschland zu besuchen. Ihr Mann Lou habe aber VW gefahren. „Warum fährst Du nach alledem einen Volkswagen?“ sei er oft gefragt worden. Er habe es trotzdem weiter getan. Deutschland hat er aber nie wieder besucht.
„Was ist das für ein Geräusch?“ fragt sie mich ein anderes Mal, als unsere Wohnzimmer-Uhr schlägt. „Ich habe auch eine solche Uhr. Ich habe sie aber überdreht. Es gibt hier leider keinen Uhrmacher, der sie reparieren kann. Jetzt hängt sie nur noch als Dekoration an der Wand!“ Erinnerungen an Deutschland …
„Gibt es noch Heidelbeeren auf den Lahnbergen? Die haben wir früher immer gesammelt!“ erinnerte sie sich ein anderes Mal.
Manchmal nimmt Irma auch das jüdische Gebetbuch ihres Vaters zur Hand. Am Ende steht: „Bete für Deutschland, Dein Heimatland, das Land, wo Deine Wiege stand.“
Ein anderes Mal sagt sie: „Weißt Du, Bürgeln, das ist meine Heimat! Wie gerne würde ich das Dorf noch einmal sehen! Aber es geht leider nicht!“
Mein Stolpersteinprojekt hat sie von Anfang an mit großer Anteilnehme verfolgt. Als ich ihr von den Mails und Telefonanrufen von bereitwilligen Paten berichte, ist sie sprachlos. Ich berichte ihr von Ernst Fehler aus Bürgeln, dessen Mutter immer als am Sabbat das Feuer bei Hessens angemacht hat. „Eine Schabbes-Goi!“ ruft sie aus. So bezeichnete man die Nicht-Juden, die immer am Schabbes das Feuer oder das Licht im Haus angemacht haben. Irma will wissen, welchen Mädchennamen die Mutter von Ernst hatte. „Sie war eine geborene Heck!“ Damit konnte sie nichts anfangen. Dann sagte ich ihr: „Zum Andenken an die Familie Heß will Ernst die Patenschaft für Albert Heß´Stolperstein übernehmen.“ Da fängt Irma an zu weinen. „Das ist so unglaublich!“, sagt sie fassungslos.
Ihr Schulfreund Heinrich Heimrich hat auch eine großzügige Spende für das Stolpersteinprojekt gemacht, worüber sie sich sehr gefreut hat. Auch der Text der Grußadresse von Heinrich Heimrich hat sie sehr berührt.
Am 3.5.2016 wurden in Bürgeln 13 Stolpersteine für die Angehörigen der Familien Wertheim und Heß verlegt. Anwesend waren Volkeer Carle, der Bürgermeister von Cölbe, Jörg Block, der Ortsvorsteher von Bürgeln, Hermann Köhler, der Dekan des Kirchenkreises Marburg-Kirchhein, die Pfarrer Bürgelns, Dr. Alexander Prieur und Berit Hartmann sowie Amnon Orbach, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Marburg. Bei strömenden Regen nahmen etwa 50 Personen an diesem Dienstagmorgen an der feierlichen Verlegung teil, bei der der geflohenen und ermordeten jüdischen Mitbürger gedacht wurde. Unter ihnen auch Anna Busch, die ehemalige Klassenkameradin und Freundin von Irma. Zu jedem einzelnen Mitglied der Familien Wertheim und Heß wurden biographische Daten sowie Informationen zu ihrem Leben von Ernst Fehler und mir gegeben. Und es wurden vergrößerte Fotos aller Menschen gezeigt, derer man gedachte. Am Ende betete Amnon Orbach das Kaddisch für die Verstorbenen.
Heinrich Heimrich ließ einen Blumen-Pflanztopf vor den Stolpersteinen der Familie Heß aufstellen.
Auf der Heimfahrt nach Marburg sagte Amnon Orbach, er habe schon an über 20 Stolpersteinverlegungen teilgenommen. Diese in Bürgeln habe ihn am meisten beeindruckt.
Die Nachricht vom Tode Heinrich Heimrichs – er starb am 1. Juli 2016 - hat sie sehr traurig gemacht. Jetzt lebten nur noch Gotthard Lange, Anna Busch und sie von ihrer Bürgelner Schulklasse. Im November 2016 starb dann auch Anna Busch. Ihr Tod hat sie sehr betroffen gemacht. „Ich habe doch erst vor zwei Wochen mit ihr telefoniert. Da ging es ihr doch noch ganz gut! - Jetzt habe ich nur noch Dich, mit dem ich Deutsch sprechen kann!“
Als 2017 auch Gotthard Lange starb, war sie als einzige von ihrer alten Schulklasse noch am Leben.
Der Ortsbeirat von Bürgeln sowie das Gemeindeparlament der Großgemeinde Cölbe haben jeweils einstimmig der Aufhängung einer Gedenktafel in der Bürgelner Mehrzweckhalle zugestimmt. Die Aufhängung der Gedenktafel zur Erinnerung an die jüdischen Familien von Bürgeln am 27.1.2017 – dem Holocaust-Gedenktatg - hat Irma emotional sehr berührt. „Ich kann das alles noch gar nicht fassen!“
Am 4. März 2017 ist sie – nach den Schändungen jüdischer Friedhöfe in den USA – mit ihrer Tochter Shelly und ihrer Enkelin Marissa auf einer Demonstration für Toleranz und eine multireligiöse und gewaltfreie Gesellschaft in Philadelphia auf die Straße gegangen. Die Demonstration war von einem überkonfessionellen Bündnis – Christen, Moslems und Juden – organisiert worden.
2017 haben wir Irma in den USA besucht. In Philadelphia wurden wir am Flughafen von Shelly abgeholt. Shelly arbeitet als Rabbinerin in einer reformjüdischen Gemeinde. Unterwegs zu ihrem Haus haben wir ihre Ihrer Tochter Julia kurz besucht, die mit einem Arzt verheiratet ist. Sie hatte 2017 2 ganz süße kleine Kinder. Jetzt ist noch ein drittes hinzugekommen.
Am Abend hat Shellys Ehemann Elliot, der auch als Arzt in Philadelphia arbeitet, uns ein köstliches Mahl zubereitet. Wir wurden wie gute Freunde behandelt und wir fühlten uns sofort herzlich aufgenommen.
Am nächsten Morgen ging es mit dem Zug bis Baltimore, wo uns Irma am Hauptbahnhof erwartete. Sie war ganz klein! Und wir begrüßten uns, als ob wir jeden Tag zu Besuch kämen. Wir waren uns durch die zahllosen Telefonate so nah, dass unser erstes Zusammentreffen wie ein ganz normaler Besuch ablief. Irmas Sohn Jeff, der so alt ist wie wir, wartete im Auto auf uns.
Wir verlebten 4 herrliche Tage zusammen. Jeff zeigte uns Baltimore. Wir besichtigten das alte Fort Henry, in dem der Kommandant während der Schlacht 1776 mit englischen Kriegsschiffen die amerikanische Nationalhymne dichtete: „The star sprangled banner“.
Am Hafen hatten wir einen kleinen Imbiss mit Krabbensandwiches. Irma durfte davon nichts erfahren, denn Krabben sind nicht koscher! Als wir durch das Stadtzentrum fuhren, passierten wir das sehenswerte Holocaust-Denkmal.
Am nächsten Tag kam Shelly zu uns. Mit ihr verlebten wir zusammen den Sabbat, mit allem, was dazu gehört. Es war für uns sehr beeindruckend. Jeff las dazu – natürlich mit Kipa - die religiösen Formeln in Hebräisch vor. Die Sabbatkerze wurde entzündet und wir speisten an diesem Freitagabend vom Feinsten. Irma hatte alles zubereitet.
Wie es sich für eine gläubige Jüdin gehört, hatte sie Milch und Fleisch getrennt voneinander aufbewahrt. Und sie hatte auch verschiedenes Besteck für beides.
An unserem ersten Abend in Baltimore hatte Irma ihre Verwandten eingeladen: Inge Hess aus Oberasphe, die als Auschwitzüberlebende in ihrem Heimatdorf Julius Hess aus Bürgeln wiedergetroffen hatte, der mit seinen beiden Brüdern Fritz und Martin als GI´s zu den US-Truppen gehörten, die Deutschland von den Nazis befreit hatten. Mit ihr waren ihre Tochter Arlene Fox mit ihrem Mann Harry gekommen.
Auf dem unteren Foto sieht man Erna Hess, verheiratete Meier hat mit ihrem Bruder Julius im Wohnzimmer von Heinrich Koch, Julius Schulfreund 1990 in Oberasphe. Die Familie von Albert Hess hatte in Oberasphe den Dorfnamen „Moses“. Julius und Erna sind dort aufgewachsen. 1990 war Julius 80 und Erna 77 Jahre alt. Erna und Julius stehen auf dem Foto ganz links. Julius hat 1945 als Dolmetscher bei dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gearbeitet. Er starb 1994, Erna 2004.
Am „Schabbes“ gingen wir mittags zu Fuß zu der Synagoge von Irma, die von ihrer jüdischen Gemeinde Ende der 50er Jahre aufgebaut worden ist. In einem Gedenkraum erinnern Tafeln daran, wer finanziell den Synagogenbau unterstützt hatte. Darunter befand sich natürlich auch ein Schild, das an Lou erinnerte, der 2015 im hohen Alter von 98 Jahren verstorben war. Unterwegs begegneten wir einigen orthodoxen Familien, die auf dem Heimweg waren. Man begrüßte sich mit „Gut Schabbes!“. Alle waren schick angezogen. Besonders die Frauen, die modische Frisuren hatten – Perücken, wie es bei den Orthodoxen üblich ist. Die Männer trugen breitkrempige Hüte.
Am Abend des Sabbats wurde mit einem Gebet im Rahmen einer kleinen Andacht der Schabbes beendet und die geflochtene Sabbatkerze gelöscht.
An unserem letzten Tag – Jeff war wieder zurück nach New Jersey gefahren – besuchten wir mit Shelly zusammen noch einen Kunstgewerbemarkt in Baltimore.
Als wir uns von Irma und ihrer Familie verabschiedeten, waren wir uns sicher, sie bald wiederzusehen. Ob das – angesichts ihres Alters und der Corona-Pandemie – noch einmal möglich sein würde, wussten wir nicht. Solange Trump im Amt war, wären wir sowieso nicht mehr in die USA geflogen.
Seit seinem Amtsantritt litt Irma unter der Präsidentschaft Donald Trumps. Er ist für sie ein völlig unmoralischer Mensch. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er so bald als möglich aus seinem Amt verdrängt wird. Die Zeit vor der Wahl 2020 war für sie besonders schlimm. Da konnte sie kaum schlafen. Und sie versteht nicht, warum so viele Juden in ihrer Straße trotzdem diesen Trump gewählt haben. Ausgerechnet sie als Juden, wo doch Trump ein Rassist ist und ein frauenverachtender Macho!
Aber es hängt wohl mit der Israelpolitik Trumps zusammen. Da sind sich orthodoxe Juden und evangelikale Christen einig. Israel ist das den Juden versprochene Land, genau so, wie es im Alten Testament versprochen wurde!
Unsere Telefonate begannen während der Amtszeit von Trump fast immer mit ihrer Frage: „Hast Du gehört, was er wieder gesagt hat?“ Trump raubte ihr den Schlaf!
Die New York Times hat 2021 ausgerechnet, dass Trump während seiner Amtszeit mehr als 3 000 Lügen verbreitet hat – in Reden und auf Twitter. Das erinnerte sie sehr an die Nazis und Göbbels: „Hat der nicht gesagt, man muss eine Lüge nur oft genuig wiederholen. Irgend etwas wird hängen bleiben!“
Zu Irmas 94. Geburtstag gab es am 30.8.2020 eine Zoom-Konferenz, an der über 40 Gratulanten teilnahmen. Shelly und Jeff hatten die Gratulation ihres am 4.9. stattfindenden Geburtstag vorgeschoben, damit auch die Berufstätigen daran teilnehmen konnten. Auch wir in Bürgeln wurden dazu eingeladen. Ich musste mir Zoom erst einmal herunterladen. Aber es hatte alles wunderbar geklappt. Verwandte und Freunde aus ganz Amerika und aus Israel gratulierten. Auch viele Verwandte aus der Familie Hess. Irma wurde mit der Video-Konferenz völlig überrascht. Sie hatte sich ganz besonders darüber gefreut, dass wir auch daran teilgenommen hatten. Am nächsten Tag sagte sie zu mir: „Ihr ward das Sahnehäubchen an meinem Geburtstag!“
Im August 2020 wollten wir sie wieder in Baltimore besuchen. Coronabedingt wurde daraus leider nichts. Mittlerweile ist Irma aber auch seit 2020 bei Whatsapp unterwegs. Und so können wir auch über dieses Medium Videokonferenzen miteinander machen, wenn wir es wollen.
Nach dem Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 war Irma völlig aufgeregt. Die Fernsehberichte hatten sie wieder in die Nazi-Zeit versetzt. „Da kamen mir die alten Erinnerungen wieder hoch!“ empörte sie sich.
Nach der Vereidigung von Joe Biden hat sie mir am nächsten Tag am Telefon gesagt: „Ich habe das erste Mal wunderbar geschlafen. Und als ich aufwachte, hatte ich gute Laune!“
Irma ist mit ihren 94 Jahren ein sehr aktives Mitglied ihrer jüdischen Gemeinde in Baltimore. „Mein Mann hat mir gesagt: Ich kaufe Dir noch eine Chauffeurmütze!“ Er spielte damit auf ihre Fahrdienste an, die sie für ihre Freundinnen leistet. Das ist auch heute noch so. Im März 2017 sagte sie mir: „Heute muss ich zweimal Freundinnen kutschieren. Eine heute früh, die andere heute Nachmittag.“ – „Ich kann einfach nicht Nein sagen!“
Im Dezember 2020 hatte sie einen kleinen Auffahrunfall. Da beschloss sie, nicht mehr Auto zu fahren.
Am Muttertag 2016 gab es in Philadelphia ein großes Familientreffen, an dem alle Kinder, Enkel und Urenkel von Irma teilnahmen. Im Mittelpunkt stand – natürlich – Irma.
Wenn man das Foto all dieser glücklichen Menschen sieht, überkommt einen ein Gefühl der Genugtuung. Irma hat überlebt und mit ihr ihre Familie. Das Leben hat über die Barbarei triumphiert.
Verfasser: Hans Junker